, Kinderhospiz
Es ist 6.50 Uhr. Ich bin wach. Wach und müde. Schließe meine Augen noch einmal. Versuche zu schlafen. Noch ein wenig. Es gelingt mir nicht. Ich stehe leise auf. Klara und Uli schlafen. Sie atmen ganz gleichmäßig. Ich gehe ins Bad. Wasche mich.
Dann gehe ich zu Josef. Den Gang entlang. Rechts. Von draußen höre ich vereinzelte Knaller. Sie sind noch nicht müde, das neue Jahr zu begrüßen. Die bösen Geister zu vertreiben. Sollen sie, denke ich. Sollen sie, die bösen Geister vertreiben. Josef schläft. Herzfrequenz 123. Sauerstoffsättigung 95. Alles gut, denke ich. Alles gut.
Ich genieße es, allein bei Josef zu sein. Ihn zu berühren. Anzuschauen. Das neue Jahr mit ihm zu begrüßen. Mit unseren inneren Dialogen. Mein Josef und ich. Wie wird es werden? Das neue Jahr? Mein Josef? Wie wird es wohl werden?
In mir breitet sich Ruhe aus. Eine tiefe innere Ruhe. Ein Gefühl von Dankbarkeit. Dankbarkeit, Josef jetzt berühren zu dürfen. Ihn spüren zu dürfen. Mehr möchte ich ja gar nicht, mein Josef. Mehr soll es nicht sein. Das reicht schon, mein Josef.
Die Schwester kommt. Ganz leise. Behutsam. Wir wünschen uns ein gutes neues Jahr. Gesundes neues Jahr bekommen wir beide nicht über die Lippen. Aber. Ein gutes neues Jahr.
Ich frage sie nach der Nacht. Nichts Besonderes, sagt sie. Josef schlief durch. Gut, sage ich. Das ist gut. Ruhig ins neue Jahr schlafen. Ein gutes Zeichen. Wir lachen. Leise.
Uli kommt. Bringt Kaffee mit. Josef öffnet seine Augen. Uli bereitet die Inhalette vor. Ich schalte den Monitor aus. Nehme Josef aus seinem Bett. Küsse ihn. Gebe ihn Uli. Er inhaliert Josef.
Die Schwester lässt die Wanne ein. Für das Neujahrsbad. Ich ziehe Josef vorsichtig aus. Uli lässt Josef ins Wasser gleiten. Er genießt es. Josef ist entspannt. Ein ruhiger Morgen, denke ich. Ein ruhiger Neujahrsmorgen. Ich trockne Josef vorsichtig ab. Küsse ihn. Ganz bedächtig. Öle ihn ein.
Langsam wird es lauter im Kinderhospiz. Im Flur höre ich einen Gast. Ganz laut tönt er. Begrüßt ganz laut das neue Jahr. Wie schön, denke ich. Wie schön. Ich ziehe Josef an. Ganz vorsichtig.
Dann gehen wir in den Gemeinschaftsraum. Ehrenamtliche bereiten das Frühstück vor. Es gibt Hering. Für den Kater. Nach und nach werden die Gäste gebracht. Pfleger und Schwestern kommen. Eltern. Geschwisterkinder.
Ich gebe Josef langsam seinen Morgenbrei. Er schläft in meinem Arm ein. Ich setze mich mit ihm in den großen Sessel ans Fenster. Halte ihn. Schaue in den Garten. Ich kann immer noch Feuerwerk sehen und hören. Neujahr. Einatmen und Ausatmen.
Uli und Klara helfen mit, den Wintergarten aufzuräumen. Ein beschwerter Silvesterabend, denke ich. Hatte doch jeder seine Schwere. Des letzten Jahres. Noch einmal durchfühlt.
Das letzte Jahr. Die Jahre davor waren so voll mit schönen und leichten Erinnerungen. Das letzte Jahr war zu der Leichtigkeit schwer. Und das neue Jahr. Mit Sorgen und Ängsten erwartet. Hoffnung auf gute Tage. Glückliche Stunden. Ein schweres Silvester im Kinderhospiz. Und haben doch versucht, uns nichts anmerken zu lassen. Haben es versucht.
Josef liegt in meinem Arm. Fast den ganzen Tag halte ich meinen Josef. Klara spielt mit den Geschwisterkindern. Uli möchte allein sein. Laufen, sagt er. Laufen. Am Nachmittag kommt mein Vater zu Besuch. Josef ist wach. Entspannt. Ich gebe Josef der Schwester. Gehe laufen. Mit meinem Vater. Wir reden. Laufen und reden.
Zum Abendessen sind wir zusammen im Kinderhospiz. Josef hat Fieber, sagt die Schwester. Er hat schon Medikamente bekommen. Ich halte ihn im Arm. Wir essen zusammen. Mein Vater dabei. Gäste sind da. Eltern. Pfleger. Schwestern. Geschwisterkinder. Josef fängt an zu krampfen. Stark zu krampfen. Die Schwester nimmt Josef. Gibt ihm ein Notfallmedikament.
Ich merke. Und verabschiede meinen Vater. Es tut mir leid, sage ich. Heute bleibe ich bei Josef. Den Abend können wir nicht zusammen verbringen. Schon gut, sagt mein Vater. Schon gut. Einatmen und Ausatmen.
Josef schläft ein. Nach einer Stunde ist er wieder wach. Uli inhaliert Josef. Saugt ihn ab. Ich ziehe ihn um. Lege ihn mir auf die Brust. Josef ist unruhig. Er bekommt noch einmal ein Medikament. Entspannt sich. Schläft ein. Ich lege ihn in sein Bett. Herzfrequenz 119. Sauerstoffsättigung 95. Wir geben der Schwester Bescheid.
Gehen zu Klara ins Jugendzimmer. Sie schläft fast ein. Auf dem Sofa. Uli trägt sie ins Elternzimmer. Wir schlafen. Irgendwann. Mein Herz. Schwer.
Zuletzt aktualisiert am: 29.12.2020