, Zu Hause 2

Um 7.00 Uhr klingelt der Wecker. Ich habe tief und fest geschlafen. Wir sind alle wieder zusammen. Wie wichtig das ist. Dass wir zusammen sind. Wir haben nur diese Zeit mit Josef. Wir alle zusammen.

Irgendwann gibt es kein später mehr. Dann können wir nichts mehr nachholen. Können wir überhaupt etwas in unserem Leben nachholen? Wohin nachholen? Einatmen und Ausatmen.

Ich stehe auf. Gehe ins Bad. Wasche mich. Gehe in die Wohnküche. Setze Wasser auf. Für Tee und Kaffee. Gehe auf den Balkon. Es ist stürmisch draußen. Aprilwetter. Ich gehe in Josefs Zimmer.

Er ist wach. Mein Josef liegt im Arm der Schwester. Ganz eingekuschelt. Ihre Arme sind wie für Josef gemacht. Sie halten ihn. Als hätten sie nie etwas anderes getan, denke ich. Ich nehme Josef. Küsse ihn. Frage nach der Nacht.

Josef hat gut geschlafen, sagt sie. Keine Besonderheiten. Kein Fieber. Keine Krämpfe. Vitalwerte waren im Normbereich. Sie räumt auf. Spült. Wechselt aus. Zieht auf. Die Schwester verabschiedet sich. Schlaf gut. Danke.

Ich setze mich mit Josef ins Wohnzimmer auf das Sofa. Lege mir Josef über meine Knie. Kuschele ihn ein. Streiche mit meinen Händen über seine Rippenbögen. Helfe ihm beim Atmen.

Uli kommt. Setzt sich zu uns. Klara schaut fern. Es sind ja Ferien und Wochenende. Wir sind zusammen. Das ist schön. Spürbar. Schön. Kostbar. Uli deckt langsam den Frühstückstisch. Backt Brötchen auf.

Ich inhaliere Josef. Sauge ihn vorsichtig ab. Sein Sekret ist schaumig, weiß und flüssig. Das ist gut. So ist es gut, mein Josef. Ich ziehe Josef vorsichtig an. Vergesse das Küssen nicht. Ich setze Josef in den Therapiestuhl an den Frühstückstisch.

Josef bekommt seinen Morgenbrei. Tee und Medikamente. Wir hören Radio. So, wie wir es immer machen. Die Routine. Das Gewohnte gibt mir Sicherheit. Ich kann mich orientieren.

Nach dem Frühstück schläft Josef ein. In seinem Therapiestuhl. Ich verstelle den Stuhl. So, dass er halb liegt. Drehe seinen Kopf zur Seite. Damit das Sekret gut rauslaufen kann. Setze Josef eine Mütze auf. Kuschele ihn ein. Schiebe Josef an das Balkonfenster. Frischlufttherapie.

Klara ist in ihrem Zimmer. Malt und hört Hörspiel. Gegen Mittag klingelt es. Die Geschwisterkinder. Sie wollen Klara abholen. Uli telefoniert mit dem Vater. Es geht klar, sagt Uli. Klara darf mit ins Kinderhospiz. Die Eltern von den Geschwisterkindern passen auf. Später holen wir Klara ab.

Es ist schön, die drei zusammen zu sehen. Sie sind ganz unterschiedlich. Gleichzeitig sind sie eng miteinander verbunden. Welch ein Glück, meine Klara. Welch ein Glück, dass ihr euch habt.

Uli inhaliert Josef. Saugt ihn ab. Ich nehme ihn aus dem Therapiestuhl. Küsse ihn. Josef, mein Josef. Mit seinem Jungshaarschnitt. Er steht dir, mein Bär. Der Haarschnitt.

Schön ist, ich kann seinen kleinen Leberfleck hinter seinem Ohr besser küssen. Nun ist er nicht mehr ganz so geheim. Der kleine Leberfleck. Mein Bär.

Ich gebe Josef seinen Mittagsbrei. Tee. Medikamente. Inhalation. Absaugen. Ich ziehe Josef an, um raus zu gehen. Uli packt die Absauge ein. Medikamente. Tee. Ich trage Josef die Treppe runter. Lege ihn in den Kinderwagen. Dann gehen wir los. Eine Runde. Eine Gartenrunde.

Die Sonne scheint wenig. In den Gärten fängt es an zu blühen. Das ist schön. Frühling. Frühling, mein Bär. Dein zweiter Frühling. Unser gemeinsamer zweiter Frühling.

Auf dem Rückweg gehen wir ins Kinderhospiz. Klara und die Geschwisterkinder spielen im Garten Fußball. Die Eltern sitzen auf der Bank. Ihre Tochter neben ihnen. Im Rehabuggy. Wir umarmen uns.

Ich begrüße ihre Tochter. Frage, ob ich sie berühren darf. Ja, sagt die Mama. Ich freue mich darüber und halte ihre Hand. Ganz vorsichtig. Ihre Augen sind auf. Sie dreht ihren Kopf zu mir. Ganz vorsichtig. Sie wird beatmet. Ob sie mich kennt? Kennst du mich? Ich bin die Mama von Klara und Josef.

Wir sitzen eine lange Weile zusammen. Josef ist in seinem Kinderwagen eingeschlafen. Wir erzählen. Leichte Dinge und schwere. Viele schwere Dinge. Von der schweren Zeit in den letzten Wochen. Davon, dass wir nicht wussten, ob unsere Kinder weiterleben. Ob wir sie noch halten dürfen.

Momentan ist es leichter. Wie es morgen sein wird? Das wissen wir nicht. Hangeln uns von einem guten Moment zum anderen. Sie werden immer kürzer. Diese guten Momente. Geht es euch auch so?

Ja, sagt der Vater. Ja. Manchmal kann er gar nicht schlafen. Nicht essen. Weiß dann nicht, wohin. Mit sich und der Welt. Ich gebe Josef Medikamente. Tee. Verabschieden uns. Umarmen uns. Bis morgen, sagen wir. Und wissen doch gar nicht, wie es morgen sein wird.

Zu Hause. Zusammen essen wir Abendbrot. Schauen Kinderfernsehen. Ich inhaliere Josef. Sauge ihn ab. Ziehe Josef um. Küsse ihn. Immer wieder.

Uli bringt Klara ins Bett. Liest ihr vor. Macht ihr das Hörspiel an. Josef liegt auf mir. Schläft ein. Wir atmen zusammen. Das Sekret läuft aus seinem Mund und seiner Nase. Ich tausche die durchweichten Tücher aus.

Um 21.30 Uhr klingelt es. Die Schwester. Ich lege Josef in sein Bett. Herzfrequenz 105. Sauerstoffsättigung 90. Wir gehen ins Bett. Schlafen.

Zuletzt aktualisiert am: 29.03.2021


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