, Kinderhospiz

Um 6.30 Uhr bin ich wach. Klara schläft. Uli auch. Ich setze mich auf das Bett. Es ist trüb draußen. Noch ein trüber Herbsttag.

Ich stehe auf. Gehe ins Bad. Wasche mich. Schaue mich im Spiegel an. Lange habe ich nicht mehr gewagt, mich anzuschauen. Ich sehe müde aus. Müde, fahl und dünn. Ganz eingefallen sind meine Wangen. Schatten unter meinen Augen.

Ich muss mehr schlafen. Muss mehr essen. Muss. Muss. Muss. Sonst bin ich bald nur noch der Schatten. Aus dem Zimmer höre ich Uli aufstehen. Klara macht den Fernseher an. Es ist ja Wochenende.

Uli und ich gehen zu Josef. Aus dem Gemeinschaftsraum holen wir uns einen Kaffee. Ehrenamtliche machen das Frühstück. Heute wird es Pfannkuchen geben. Klara wird sich freuen, denke ich. Wir gehen den Gang entlang. Dann rechts.

Josef wird gerade wach. Herzfrequenz 130. Sauerstoffsättigung 98. Die Schwester ist bei Josef. Nimmt ihn aus seinem Bett. Legt ihn in ihren Arm und inhaliert ihn. Dabei spricht sie mit ihm. Es ist schön. Mir laufen Tränen. So gerührt bin ich.

Ich frage nach der Nacht. Josef hat durchgeschlafen, sagt sie. Jetzt muss er sein Sekret loswerden. Genau, sage ich. Sie hat ihn verstanden. Unseren Josef.

Was mit ihm ist. Was er braucht. Dass er ganz anders ist. Als normale Kinder. Das er so ähnlich ist, wie die Kinder im Kinderhospiz. Die Kinder hier Unterstützung brauchen. Beim Atmen. Beim Essen. Bei allem. Bei all dem, was für uns selbstverständlich ist. Worüber ich noch nie nachgedacht habe. Vorher.

Mit einem Josef denken wir anders. Ganz anders. Oft ist es schwer, es Menschen ohne Erfahrung mit Josefkindern zu erklären. Weil es sich niemand vorstellen kann. Doch nur, weil es nicht vorstellbar ist, heißt es nicht, dass Josef nicht lebt. Mit allen den Dingen, die er nicht kann. Die wir übernehmen müssen. Müssen. Müssen.

Das Andersdenken. Das Andershandeln. Bei Josef. Hier im Kinderhospiz brauchen wir nicht erklären. Um Verständnis werben. Hier. Kennen sie Kinder. Wie Josef. Das entlastet mich. Uns.

Uli lässt die Wanne ein. Ich gehe zu Klara. Frage, ob sie mit Josef baden möchte. Dann braucht sie heute Abend nicht mehr. Zu Hause. Baden. Okay, sagt sie. Möchte eigentlich noch weiter fernsehen. Fühlt sich um ihre morgendliche Fernsehstunde betrogen. Sie kommt mit.

Josef schwebt schon in der Wanne. Klara geht mit in die Wanne. Ihre Taucherbrille hat sie mit. Welch ein Glück. Beide Kinder in der Wanne. Josef ist relativ entspannt. Ich nehme Josef aus der Wanne. Trockne ihn vorsichtig ab. Küsse ihn. Noch nicht geküsst heute, mein Josef.

Ich öle Josef vorsichtig ein. Spüre seine schöne weiche Haut. Sein kleines Herz spüre ich. Es schlägt. Schnell. Ich küsse sein kleines Herz. Es schlägt, mein Josef. Ich ziehe Josef vorsichtig an. Uli wäscht Klara die Haare. Dann kommt auch sie aus der Wanne.

Wir gehen zum Frühstück in den Gemeinschaftsraum. Gäste kommen. Pfleger. Schwester. Eltern auch. Ich gebe Josef vorsichtig seinen Morgenbrei. Halte ihn in meinem Arm. Klara freut sich über die Pfannkuchen. Isst gleich zwei. Die Geschwisterkinder kommen. Sie stecken ihre Köpfe zusammen. Planen. Sind verschwunden. Im Garten.

Wir sitze lange am Frühstückstisch. Diese Ruhe am Sonntag ist wundervoll. Nach dem Frühstück gehen wir spazieren. Uli packt die Absauge in den Kinderwagenkorb. Ich trage Josef. Meinen Josef an meiner Brust.

Wir gehen los. Eine größere Runde. Wagen es. An diesem Herbsttag. Diesem Herbstsonntag. Klara spielt mit den Geschwisterkindern im Garten. Sie sammeln Kastanien. Wie gut, dass sie sich haben. Die drei. Die fünf. Es sind ja fünf. Josef und die Schwester der beiden gehören ja auch dazu. Irgendwie. Verbinden sie. Josef und die Schwester der beiden.

Am Nachmittag sind wir wieder im Kinderhospiz. Josef ist relativ entspannt. Uli saugt ihn ab. Ich lege mir Josef über die Knie. Mit dem Kopf nach unten. Er entspannt sich. Etwas.

Uli sucht nach Klara. Findet sie. Unsere Klara. Wir müssen doch los. Klara muss morgen in die Schule. Muss. Muss. Muss. Ich gebe Uli seinen Sohn. Josef schläft. Er legt ihn vorsichtig in sein Bett. Schaltet den Monitor ein. Herzfrequenz 130. Sauerstoffsättigung 99.

Klara und ich packen unsere Sachen. Mir ist das Herz schwer. Wir verabschieden uns. Umarmungen. Küsse. Für Josef. Für Uli.

Im Zug sind wir still. In der Wohnung ist es kühl. Ich setze Wasser auf. Für Tee. Koche Nudeln. Nudeln mit Pesto. Klara ist traurig. Ich auch. Nur noch eine Woche, sagt Klara. Dann sind endlich Ferien. Ja, sage ich. Das ist gut.

Zusammen schauen wir Kinderfernsehen. Ich lese Klara vor. Sie darf bei uns schlafen. Ich mache ihr das Hörspiel an. Dann stehe ich noch einmal auf. Rufe Uli an.

Uli sagt, Josef hatte einen Krampfanfall. Einen großen. Nun schläft er. Er bekam das Notfallmedikament. Mir laufen Tränen. Ich wäre gern da, sage ich. Ich weiß, sagt Uli. Wir schaffen es schon, sagt Uli.

Ich sage, mit schaffen hat es nichts zu tun. Da sein. Es geht ja nur um das Dasein. Was sollen wir denn schaffen? Als könnten wir schaffen, dass Josef gesund wird. Ich weiß, sagt Uli. Ich weiß es. Doch. Wir umarmen uns durchs Telefon. Da sein. Da sein. Ich gehe ins Bett. Schlafe lange nicht.

Zuletzt aktualisiert am: 29.09.2020


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