, Zu Hause 1
Um 6.00 Uhr klingelt der Wecker. Ich stehe auf. Gehe ins Bad. Bin müde. Es ist dunkel draußen. Aus dem Wohnzimmer höre ich die Inhalette rauschen. Alles nach Plan, denke ich. Alles nach Plan. Ich gehe ins Wohnzimmer.
Josef liegt in seinem Bett. Schläft. Die Schwester sitzt auf dem Sofa. Die Inhalette hat sie in ein Kuscheltier geklemmt. So muss sie sie nicht halten. Die Inhalette. Vor Josefs Gesicht.
Ich bin verwundert. Josef ist doch ihr alleiniger Patient. Sie muss doch nicht drei Patienten gleichzeitig versorgen. Herzfrequenz 125. Sauerstoffsättigung 98. Einatmen und Ausatmen. Was ist daran auch so schlimm, denke ich? Was ist daran so schlimm? Einatmen und Ausatmen.
Ich gehe erst in die Küche. Setze Wasser auf. Für Tee und Kaffee. Packe meine Tasche. Thermoskanne. Unterlagen. Ein Apfel.
Gehe ins Wohnzimmer. Frage nach der Nacht. Zwischen 1.00 Uhr und 3.00 Uhr war Josef sehr unruhig. Hatte weit aufgerissene Augen. Schwitzte stark. Temperatur 37,0. Vitalwerte waren im Normbereich. Seit 3.30 Uhr schläft er. Gut, sage ich. Gut. Sie spült die Inhalette aus.
Uli kommt. Sie verabschiedet sich. Schlaf gut, sage ich. Danke. Ich weiß nicht, ob ich fahren soll, Uli? Josef war unruhig. Fahr Anne, sagt Uli. Fahr. Heute kommt eine Schwester. Wir rufen dich an. Wenn etwas sein sollte. Okay, sage ich.
Trotzdem schleicht sich das schlechte Gewissen an. Setzt sich fest. In meinem Kopf. Uli umarmt mich. Sagt, bis heute Abend. Wir holen dich ab. Ich fahre mit dem Rad zum Bahnhof. Der Zug ist pünktlich.
In meinem Kopf kreisen Gedanken. Warum ärgert es mich, dass die Schwester Josef so anstrengend findet? Sie überlastet scheint? Fast genervt von der Arbeit bei uns? Hat es mit uns zu tun? Mit uns konkret? Sind es andere Themen in ihrem Leben? Einatmen und Ausatmen.
Ich möchte nicht, dass sie so viel Platz einnimmt in meinem Leben. Und doch. Macht sie es. Nimmt Platz in meinem Kopf ein. Neben dem schlechten Gewissen. Dort hat sie doch nichts zu suchen. Oder?
Wie wäre es mit Klara, denke ich. Wenn mir die Lehrerin signalisieren würde, Klara wäre anstrengend. Was würde das mit mir machen? Genau dasselbe. Oder? Ich würde mir Gedanken machen. Sorgen. Wäre traurig. Wütend. Vielleicht auch.
Es sind doch meine Kinder. Meine großartigen Kinder. Wie kann sie nur jemand anstrengend finden? Und es mir unvermittelt sagen und spüren lassen. Als wäre Josef nicht mein Kind, sondern ein Patient. Einatmen und Ausatmen.
Im Seminar. Heute bin ich in mich gekehrt. Schweife immer wieder ab. Mit meinen Gedanken. Genieße es dann doch. Dort zu sein. Mandarinen zu essen. Tee zu trinken. Zuzuhören. In der Pause rufe ich zu Hause an. Alles gut, sagt Uli. Alles gut. Josef schläft. Klara ist noch im Schlafanzug.
Der Nachmittag ist zäh. Die zähen Nachmittage. Um 17.30 Uhr ist das Seminar vorbei. Uli und Klara warten auf mich.
Uli ist wütend. Sagt, stell dir vor. Die Schwester hat Josef einen Löffel mit Brei gegeben. Dann hat sie gesagt, sie hat es mit dir besprochen. Hast du das mit ihr besprochen?
Nein, sage ich. So nicht. Ich habe gesagt, wir müssen es mit den Ärzten und der Logopädin besprechen. Ich war nicht eindeutig, sage ich. Nein, hätte ich sagen sollen. Klara ist ruhig. Ganz ruhig. Einatmen und Ausatmen.
Wir fahren gleich nach Hause. Ich spüre Ulis Wut.
Zu Hause. Josef ist wach. Sitz in seinem Therapiestuhl. Die Schwester sitzt vor ihm. Gibt ihm Tee durch den Bauchschlauch. Ich sage, Uli hat mir schon erzählt. Ja, sagt sie. Du hast doch gesagt, das wäre in Ordnung.
Nein, sage ich. Ich habe gesagt, wir müssen das besprechen. Ich war nicht eindeutig. Ja, sagt sie. Uli kommt dazu. Er ist immer noch sehr wütend. Sagt, du kannst ihm doch nicht einfach einen Löffel Brei in den Mund geben. Josef kann nicht schlucken. Er kann daran ersticken.
Es war doch nur ein bisschen, sagt sie. Einatmen und Ausatmen. Kein Brei, sage ich. Kein Brei mehr im Mund von Josef. Kein Brei. Wenn ihr das wollt, sagt sie. Ja, sagt Uli. Das wollen wir. Einatmen und Ausatmen. Wir verabschieden die Schwester.
Uli bereitet das Abendbrot vor. Zündet drei Kerzen an. Es ist ja dritter Advent. Ich halte Josef in meinem Arm. Inhaliere ihn. Sauge ihn ab. Zusammen schauen wir Kinderfernsehen. Uli bringt Klara ins Bett. Liest ihr vor. Macht ihr das Hörspiel an.
Josef schläft auf meiner Brust ein. Ich lege ihn in sein Bett. Herzfrequenz 123. Sauerstoffsättigung 96. Uli und ich. Wir reden. Es tut mir leid, sage ich. Ich war unbedacht. In Zukunft achte ich wieder darauf. Dass erst wir alles besprechen. Dann entscheiden. Nicht nebenbei.
Keine Allianzen. Es geht so schnell, sage ich. So schnell. So nebenbei. Heißt es dann, ich habe doch mit der Mutter, mit dem Vater besprochen. Darauf müssen wir achten. Sonst zerreißt es uns. Als Familie. Einatmen und Ausatmen.
Um 21.30 Uhr klingelt es. Die Schwester. Wir gehen ins Bett. Reden. Leise. Lange. Schlafen.
Zuletzt aktualisiert am: 28.11.2020