, Kinderhospiz
Es ist 6.45 Uhr. Ich bin wach. In meinem Kopf kreisen die Gedanken. Ziehen ihre Kreise. Wir hätten nicht gehen dürfen. Erster Gedanke. Hätte die Kinder nicht allein lassen dürfen. Zweiter Gedanke. Hätten die Situation noch mal deutlicher mit der Schwester besprechen müssen. Dritter Gedanke. Hätten Josef am Nachmittag wecken müssen. Vierter Gedanke. Hätten Josef mehr mobilisieren müssen. Fünfter Gedanke. Hätten wir was ändern können? Sechster Gedanke.
Mir laufen Tränen. Trotzdem. Fühle ich mich ohnmächtig. Ich stehe auf. Mir ist schwindelig. Klara ist wach. Fragt. Ja, sage ich. Ja. Es sind ja Ferien. Ich gehe ins Bad. Wasche mich. Kaltes Wasser in mein Gesicht.
Uli steht auf. Gemeinsam gehen wir zu Josef. Den Gang entlang. Rechts. Herzfrequenz 125. Sauerstoffsättigung 94. Die Schwester ist bei ihm. Josef schläft. Ganz friedlich. Als wäre nichts gewesen. Ich streichele seinen schönen Kopf. Seine Locken.
Uli fragt nach der Nacht. Josef schlief durch, sagt sie. Um 6.00 Uhr war er wach. Hat viel Sekret mobilisiert. Vor einer halben Stunde schlief er wieder ein. Gut, sage ich. Gut.
Sie sagt, ich habe gehört. Von gestern Abend. Von der größeren Krise. Eurem Schreck und eurer Sorge. Mir laufen Tränen. Leise Tränen. Sie berührt meinen Arm. Das tut mir gut. Sie zeigt mir damit, dass sie da ist. Ich nicht verloren bin. Das tut mir gut.
Wir hätten nicht, oder? Frage ich. Nein, sagt sie. Mir geht es auch um Klara, sage ich. Klara hat sich allein gefühlt. Bitte, sage ich, ruft uns gleich an. Ja, sagt sie. Das machen wir. Ich gebe es weiter. Schreibe es in die Akte. Ganz oben. Danke, sage ich. Danke.
Hach, sage ich. Unser Josef. Wir lachen. Dann. Ein wenig. Ich fühle wieder Boden. Unter meinen Füßen. Josef wird wach. Ich schalte den Monitor aus. Nehme ihn in meinen Arm. Küsse ihn. Uli inhaliert Josef. Saugt ihn ab. Die Schwester lässt die Wanne ein. Ich ziehe Josef vorsichtig aus. Küsse ihn. Josef gleitet in die Wanne. Er ist entspannt. Als wäre nichts gewesen. Gestern. Abend.
Ich trockne Josef ab. Küsse seine Füße, Hände, Arme, Beine, seinen Bauch, seine Brust, seine Stirn, seine Wangen, seine Nase und seinen Mund. Öle ihn ein. Ziehe ihn an.
Wir gehen in den Gemeinschaftsraum. Das Frühstück wurde wieder von Ehrenamtlichen gemacht. Es gibt Eierkuchen. Klara kommt. Sie ist ganz still. Setzt sich zu uns.
Draußen schneit es. Der erste Schnee in diesem Jahr. Deckt alles zu, denke ich. Alles zu. Die Gäste kommen. Pfleger. Schwestern. Eltern. Ich gebe Josef seinen Morgenbrei.
Nach dem Frühstück ziehen wir uns an. Ziehen Josef an. Ich trage Josef. Uli trägt die Absauge. Klara kommt mit uns mit. Der erste Spaziergang im Schnee. In diesem Winter. Klara ist in sich gekehrt. Im Laufen kommen wir ins Reden.
Sie sagt, ich habe mich hilflos gefühlt. So habe ich mich mit Josef noch nie gefühlt. Ich umarme sie. Josef in unserer Mitte. Sage, ich weiß. Wir lassen dich nicht mehr allein. Mit Josef. Du hättest nichts machen können, meine Klara. Du bist nicht für deinen Bruder verantwortlich. Du hast keine Schuld. Du hast nie Schuld, meine Klara. Nie. Klara weint. Sagt, okay. Fragt, können wir zurück gehen? Ja, sage ich. Ja. Wir lachen.
Im Kinderhospiz. Josef ist eingeschlafen. Er hat ganz rote Wangen. Von der Kälte. Ich lege ihn vorsichtig in sein Bett. Uli holt Tee. Wir sitzen bei Josef. Der Schreck von gestern Abend wird kleiner. Immer kleiner. Verschwindet dann.
Josef wird wach. Uli inhaliert ihn. Saugt ihn ab. Klara spielt mit den Geschwisterkindern im Kreativraum. Sie basteln. Wir gehen in den Gemeinschaftsraum. Es wird langsam dunkel. Wieder ein Tag vorbei, denke ich.
Zum Abendessen kommen Gäste. Wenige bleiben in den Zimmern. Der Junge von gestern und seine Mutter sind da. Eine Freundin auch. Wir reden. Ein wenig. Ich gebe Josef seinen Abendbrei.
Dann gehen wir in Josefs Zimmer. Inhalieren. Saugen ab. Ziehen ihn um. Ich lege Josef auf meine Brust. Das Sekret läuft aus seiner Nase und seinem Mund. Alles gut. Ich spüre ein leichtes Zittern in Josefs Körper. Es hört auf. Ich küsse seinen Kopf. Wir atmen zusammen. Josef entspannt sich. Sein Körper wird ganz weich. Ich lege ihn in sein Bett. Schalte den Monitor an. Herzfrequenz 123. Sauerstoffsättigung 95. Alles gut.
Wir geben der Schwester Bescheid. Finden Klara. Gehen zusammen ins Elternzimmer. Schauen etwas fern. Klara kuschelt sich eng an mich. Schläft ein. Wir auch. Irgendwann.
Zuletzt aktualisiert am: 28.11.2020