Eine Frau ruft: Abstand halten. Abstand. Mehrmals ruft sie das. Abstand.
Der Wecker klackt. Es ist 5.50 Uhr. Jetzt hätte er geklingelt. Vor 9 Wochen hätte er genau jetzt geklingelt. Jetzt.
Ich bin wach. Drehe mich auf die andere Seite. Versuche zu schlafen. Weiterzuschlafen. Andere Tage sind doch. Jetzt. Jetzt sind wir anders getaktet. Ein anderer Takt, denke ich. Und kann dann doch nicht mehr schlafen.
Jette liegt neben mir. In der Mitte. Zwischen Uli und mir. Ich berühre sie. Ganz sanft. Sie dreht sich zu mir. Wurschtelt sich unter meine Decke. Kuschelt sich an mich. Ich küsse sie. Ganz sanft. Sie duftet.
Mir laufe Tränen. Weil es so schön ist. Wir sind still. Jette in meinem Arm. Ganz dicht. Ein Glück, denke ich. Welch ein Glück. Die andere Zeit. Wir dürfen liegen bleiben. Müssen nicht eilen. So liegen wir. Eine lange Weile.
Draußen ist es hell. Das Licht schimmert durch die roten Gardinen. Es ist kühl. Stimmen dringen zu uns. Menschen auf dem Schulhof. Jette sagt, ich habe Durst. Aufstehen, sagt sie auch. Gut, sage ich. Gut. Und bin dann doch so müde.
Ich stehe auf. Ziehe mich an. Jette sagt, komm Mama. Komm. Wohnküche. Apfelsaftschorle für Jette. Mit Strohhalm. Erst pustet sie durch den Halm. Blubberblasen. Dann trinkt sie. Ich küsse sie. Jette, meine Jette. Ich setze Wasser auf. Für Kaffee. Tee.
Uli kommt. Setzt sich. Klara. Müde ist sie, sagt sie. Müde. Bitte nicht ansprechen, sagt sie auch. So sitzen wir. Jette weckt die Spieltiere in ihrem Spielbauernhof. Sagt, guten Morgen. Stellt sie hin. Das Pferd. Den Hund. Den Esel. Das Schwein.
Radio. Worte. Sätze. Mich erreichen sie kaum noch. Bin voll davon. Von den Informationen. Brauche nur die konkreten Informationen. Was bedeuten sie für uns? Jetzt. Konkret.
Eine Mail kam an. Von Klaras Schule. Ende Mai wird sie für zwei Tage in die Schule gehen. Gut, denke ich. Gut. Von unserer Wohnküche aus schaue ich auf den Schulhof der Grundschule. Kinder. Sie stehen weit auseinander. Sind dort Markierungen? Merkwürdig sieht es aus.
Eine Frau ruft: Abstand halten. Abstand. Mehrmals ruft sie das. Abstand. Ich schließe das Fenster. Angestrengt wirkt sie. Angestrengte Zeit.
An-sich-halten: Nicht fühlen, was wie und wo erlaubt und sein darf und was nicht. Nur wissen und danach handeln. Nicht verinnerlicht, das Wissen in den Körpern. Angestrengt.
An-sich-halten. Ohne Vorwurf an sich halten. Wem auch was vorwerfen? Für den Zustand. Wohin werfen? Die Gefühle? Die Anstrengung? Das An-sich-halten? Die Unsicherheit? Die Verunsicherung? Einatmen und Ausatmen.
Frühstück. Cornflakes. Klara trinkt Kakao. Jette Milch. Ihren Kaffee, wie sie sagt. Klara wird munter. Langsam. Erzählt. Heute hat sie eine Videokonferenz mit ihrer Französischlehrerin. Sie freut sich.
Danach wollen wir zum Buchladen fahren. Neue Bücher kaufen. Haben alles schon ausgelesen. Jette zieht sich an. Ihr Einhornkleid soll es sein. Zwei Zöpfe und die Spangen. Schuhe. Die Jacke. Mütze. Helm. Küsse.
Mit dem Laufrad geht es in die Kita. Uli bringt sie. Klara in ihrem Zimmer. Ich. Allein in der Wohnküche. Radio. Informationen. Worte. Sätze. Musik.
Kinder auf dem Schulhof. Größere Kinder. Abstand halten. Abstand. Ich gehe auf den Balkon. Lasse die Luft in meine Lungen strömen. Einatmen und Ausatmen. Es riecht nach Erde. Der Flieder ist fast verblüht.
Ich gehe wieder rein. Schließe die Tür. Kann die Geräusche von draußen nicht aussperren. Durchlässiger. Die Welt wird wieder durchlässiger. Lauter. Anstrengender. Der Takt verändert sich.
Schneller wird er. Schneller. Uli ist wieder da. Von der Kita. Setzt sich ins Arbeitszimmer. Hat zu tun. Viel zu tun. Immer viel.
Wie sich die Welt verändert. Die Narrative sich verändern. Die Gefühle. In Wellen. Nicht begreifen können, warum und weshalb. Es aber doch wissen. Im Kopf verstanden haben. Vielleicht. Einatmen und Ausatmen.
Ich setze mich an den Rechner. Eine Videokonferenz. Ein Austausch. Es geht um die Frage: Was hättet wir damals nach der Diagnosestellung gebraucht? Was hätten wir gebraucht? Und was hätte die Welt gebraucht, denke ich. Nach der Diagnosestellung? Einatmen und Ausatmen.