Nichts ist sicher. Im Gegensatz zu uns machen sich das viele Menschen nicht bewusst.
Ein Gastbeitrag. Mit Chris und ihrer Familie verbindet uns ein intensiver Mailaustausch. Wir sind sehr glücklich über ihre Worte.
Schneefall... endlich bewegt sich draußen etwas. Dicke Flocken fallen vom Himmel und tauchen die Landschaft in ein blaues Licht. Es ist früh am Morgen, 7 Uhr. Blaue Stunde. Der Pflegedienst kommt, nimmt uns Arne ab für 3 Stunden, zieht ihn an, gibt ihm Frühstück. Ein wenig Hilfe und auch Abwechslung in dieser grauen und seltsamen Zeit. Es ist glatt draußen, die Krankenschwester sagt, sie konnte nur 30 fahren auf der Autobahn. Aber sie ist da. Das ist gut. Sie kommt nur drei Mal in der Woche, mehr lässt die enge Personalausstattung des Kinderkrankenpflegedienstes nicht zu. Im Schnitt ungefähr 10 Stunden Hilfe statt der genehmigten 28... der Pflegenotstand macht sich massiv bemerkbar. Und doch sind wir froh, dass wenigstens das Wenige geleistet werden kann. Dass sie heute gekommen ist, trotz der schwierigen Verkehrslage.
Die letzten Wochen waren still. Eintönig. Draußen wie drinnen. Corona-Alltag. Mit Arne, unserem schwerkranken und behinderten Sohn. Irgendwie hat es sich eingependelt, dieses andere Leben während einer Pandemie. Auch wenn es für uns gar nicht so anders ist. Ich habe trotzdem festgestellt, dass es sich auch für uns anders anfühlt, wenn „da draußen“ das Leben stiller wird. Eingeschränkt auch für die, die sonst ihre Freiheiten genießen können. Freiheiten, die wir seit langem schon nicht mehr haben. 13 Jahre schon voller Einschränkungen, ein anstrengendes und doch gleichzeitig ruhigeres Leben. Ruhiger als das, was normalerweise draußen tobt, ruhiger als das, was wir gehabt hätten, wenn unser Sohn gesund geboren worden wäre. Wäre... hätten... unser Leben hat aber eine andere Straße genommen.
Nun ist es auch draußen leiser geworden. Außerhalb unserer Blase. Die Menschen sorgenvoller, schwermütiger, die Leichtigkeit ist abhanden gekommen. Alles wiegt schwerer, so scheint es. Seit Weihnachten haben wir kaum Kontakt nach außen gehabt. Haben uns eingeigelt, selbst isoliert, weit mehr, als unsere Politiker es vorschreiben wollten. Aus Vorsicht, um Arne nicht zu gefährden. Corona, das Damoklesschwert, er darf es nicht bekommen.
Weihnachten nur wir vier, mein Mann Dieter, ich, unsere beiden Jungs.
Es war ein achtsameres Fest. Wir haben die Momente genossen, uns gefreut, dass wir uns haben, zusammen sein dürfen, keiner Corona-krank, Arne in keiner Krise. Dankbarkeit für die „normalen“ Dinge, die aber so normal gar nicht sind. Das zeigt uns das Universum gerade. Normalität? Was ist das? Für uns, für die anderen? Abhanden gekommen, die Normalität, das ist sie. Neue Normalität. Corona-Normalität. Schon ein wenig normal geworden, aber doch ständigem Wandel unterworfen. Treffen mit 2 Menschen aus einem anderen Haushalt, dann nur noch mit einem, Einzelhandel geschlossen, Beschränkungen des Bewegungs-Radius, Online-Schule... neue Vorschriften kommen und gehen. Es bleibt unübersichtlich.
Jonte, unser jüngster Sohn, 8 Jahre alt, ist seit gestern im Online-Unterricht, auf einer Lernplattform, alles hat wider Erwarten gut funktioniert. Er hat seine Mitschüler, seine Lehrerin endlich wiedersehen dürfen, freut sich über die bekannten Gesichter. Freut sich über die neue Struktur seines Alltags, die nun wochenlang weg war. Vorgezogene Ferien, Arbeitspläne abarbeiten ohne Zeitdruck, spät ins Bett, lange schlafen. Er wurde zunehmend schlechter gelaunt. Wusste nicht warum... ja, die Struktur, sie hat gefehlt. Nun sitzt er morgens ein paar Stunden vorm PC, hat Unterricht. Macht seine Aufgaben, es fühlt sich schon wieder ein wenig „wie vorher“ an, ein bisschen mehr nach Schule, weniger nach Isolation. Ich freue mich zu sehen, wie er aufblüht. Wünsche mir, dass er bald seine Freunde wieder treffen kann. Trotz allem nimmt er es gelassen. Sucht sich seine Beschäftigungen. Jetzt gerade draußen im Schnee. Schneemann bauen, Schnee-Engel machen, vor der Tür den Schnee räumen. Jetzt liegt er auf dem Sofa, liest und wärmt sich auf.
Dieter muss ausgerechnet heute noch raus, wartet ab, bis sich die Verkehrssituation wieder gebessert hat. Muss in die Schule, Zeugnisnoten eintragen. Alles geht von zu Hause aus, unterrichten, Konferenzen, aber diese Zeugnisnoten, sie müssen im PC der Schule eingegeben werden. Alle Lehrer unterwegs zum Noten eintragen... irgendwie widersinnig. Ginge das nicht auch anders? Heute ist der letztmögliche Tag, also raus in den Schnee... ein paar Stunden wird er weg sein.
Wir halten hier die Stellung, ich kümmere mich um Arne. Heute geht es ihm gut, er ist entspannt, sitzt zufrieden in seinem Rollstuhl. Gerade. Das kann sich innerhalb von Minuten ändern, wenn eine Schmerzattacke kommt. Sie sind unberechenbar, scheinbar grundlos. Wir können nicht hinein schauen in unser Kind. Nur aushalten, helfen, Schmerzmedikamente geben. Zügig, ohne noch lange zu warten, um ihm nicht noch mehr Schmerzen zuzumuten. Chronisches Schmerzsyndrom. Zusammen mit seiner nicht einstellbaren Epilepsie unser größter Gegner. Unberechenbar beide. Die vollständige Lähmung seines Körpers mit einschießenden Spastiken, es ist ein schmerzvolles Leben für ihn.
Er ist ein zufriedenes Kind mit einer ganz besonderen Ausstrahlung. Diese blauen Augen, die mich auf den Grund des Universums schauen lassen. Ich sage immer, er ist mein Guru. Er ist auch mein Kompass, meine Quelle, mein Zentralgestirn. Er hat mir einen neuen Weg gezeigt, uns allen, jedem von uns auf eine andere Art und Weise. Wir haben ihn gefunden, den neuen Weg, gehen auf ihm, immer nur auf Sicht, ohne zu wissen, wohin uns die nächste Abzweigung führt. Eigentlich geht es allen so, nichts ist sicher. Im Gegensatz zu uns machen sich das viele Menschen nicht bewusst. Corona zwingt sie dazu. Manche hören zu, einige leugnen weiterhin...
Nun hat es aufgehört zu schneien. Wir machen uns Kaffee, essen Kaffeestückchen. Danach fährt Dieter los. Ich bleibe mit Arne und Jonte hier, vielleicht machen wir uns ein Hörspiel an, vielleicht spiele ich etwas mit Jonte, Arne immer dabei, auch wenn er nicht aktiv teilnehmen kann. Er kann auch nicht sehen. Aber hören, das kann er. Und fühlen. Ich nenne ihn „mein kleines Fühlmonster“, liebevoll natürlich. Er sieht, ohne zu sehen. Kürzlich habe ich es wieder ausprobiert. Er saß in seinem Rollstuhl mit geschlossenen Augen, er schien zu schlafen. Ich habe mich nicht bewegt, nur meinen Blick auf ihn gerichtet. Ihm in Gedanken eine Botschaft geschickt, er solle die Augen öffnen als Antwort. Er hat es getan, wir kommunizieren auf eine ganz eigene Art und Weise. Mein Fühlmonster und ich.
Unser Leben macht Sinn. Einen ganz tiefen, eigenen Sinn. Im Hier und Jetzt sein, jeden Moment. Mit Arne ist das leicht. Viel leichter, als es aussieht. Es ist körperlich anstrengend, ja, das ist es. Es kostet Kraft, verschleißt uns körperlich, mutet uns viel zu, aber auf einer anderen Ebene ist es erfüllend, es füllt uns aus und gibt uns Lebensenergie zurück. Manchmal habe ich Angst davor, dass diese Energie irgendwann versiegt. Aber dann bin ich schon wieder gedanklich in der Zukunft, pfeife mich zurück. Im Hier und Jetzt sein!
Die Landschaft ist tief verschneit, der Blick aus unseren großen Fenstern, der weit über das Tal reicht, zeigt ein traumhaftes Bild. Ich liebe diesen Moment, wenn sich der Schneefall zurückzieht und uns das Geschenk der eingehüllten Landschaft da lässt. Immer, wenn der Schnee fällt, kommt die Erinnerung zurück an frühere Jahre. Als Arne noch sehr klein war, es noch keinen Jonte gab. Oft saß ich im Winter morgens mit Arne allein zu Hause, in den Zeiten, als er es nur tolerierte, auf dem Schoß gehalten zu werden. Als es noch keinen Rollstuhl gab und er auch nicht liegen wollte. Nur direkt „am Mann“ oder „an der Frau“ wollte er sein.
Wir saßen oft so da, an Tagen wie diesem, wenn es draußen schneite, sich die Stille über die hektische Außenwelt legte und wir uns warm und sicher drin einkuschelten. Arne wie eine Wärmflasche auf meinem Schoß. Nichts zu tun als sich gegenseitig zu wärmen und füreinander da zu sein. Nicht einmal viel bewegen durfte ich mich. Er schien den Schnee zu spüren, war an solchen Tagen oft ganz ruhig und entspannt. Wir saßen also da und ich beobachtete den Schneefall und das sich langsam verändernde Bild der Landschaft vor unseren Fenstern. Ich habe diese Morgen genossen, wenn es Arne gut ging und einfach nichts zu tun war, nichts getan werden konnte, nur mein Kind in meinen Armen.
Wenn der Schnee fällt, denke ich daran. Und ein bisschen von dieser Zeit kommt zurück, als ich ein krankes Baby hatte. Ein guter Tag ist heute. Ich weiß es.
Chris erreicht ihr unter: the-peaceful-fox[at]mail.de