Und nun. Nun bin ich erschöpft. Pandemieerschöpft. Von den Menschen mit dem Aber.
Es ist 6.20 Uhr. Jette ist wach. Ich bin müde. Schmerzhaft müde. Erschöpft müde. Tief erschöpft. Ich möchte der Erschöpfung nachgeben. Jette. Jette gibt mir einen Kuss. Aufwachen, Mama. Heute ist ein schöner Tag. Mama, aufwachen. Bitte.
Ich drücke sie an mich. Spüre ihren Körper. Ihre Lebendigkeit. Ich küsse sie. Sage, gut Jette. Gut. Ich stehe auf. Setze mich. Jette auf meinem Rücken. Hüh, sagt sie. Hüh. Ich galoppiere mit ihr in die Wohnküche. Lasse sie sanft auf den Sessel fallen. Setze Wasser auf. Für Tee. Kaffee. Jette möchte Apfelschorle.
Ich nehme sie auf den Arm. Öffne die Balkontür. Es ist kalt. Die Sonne zeigt sich. Still ist es. Still. Keine Kinder auf dem Schulhof. Einatmen und Ausatmen. Uli kommt. Ganz verschlafen. Jette kuschelt sich auf das Sofa. Darf ausnahmsweise fernsehen. Ausnahmsweise, weil sich das Leben Ausnahmen nimmt. Gerade.
Ausnahmen. Undurchsichtig. Das Drumherum. Die vielen Stimmen. Mit ihren Wünschen. Ihren vermeintlichen Bedürfnissen. Forderungen. Ich bin erschöpft. Davon. Tief erschöpft. Habe das tiefe Bedürfnis, mich abgrenzen zu wollen. Eine Glocke über uns. Nicht mehr auseinandersetzen wollen mit den vielen Aber.
Kein Aber mehr, bitte. Angesicht des Todes. Angesicht der Ernsthaftigkeit. Wir wissen doch. Wissen doch was zu tun ist. Wissen es doch und dann kommt das ABER. Diese Aber. Genug gehabt von diesen Aber.
Josef. Josef ganz dicht. Ich höre sie noch. Damals diese Aber. Die Menschen, die nicht sehen wollten, dass Josef stirbt. Dass es etwas Anderes braucht. Nicht das Aber. Dass es das Annehmen braucht. Das Aushalten. Da-Sein. Keine Diskussionen mehr um eine Situation, die offen vor uns liegt.
Diese Aber haben mir Energie geraubt. Damals deutlich mehr. Doch heute. Heute sind sie auch da. Die Aber. Das Werten und Urteilen. Dann spüre ich Wut. Resignation. Erschöpfung. Anpassungserschöpfung. An die Situation. Verändernde Situation.
Kontaktbeschränkungen. Gleichzeitig große Sehnsucht nach Berührungen und Begegnungen. Auch davon bin ich erschöpft. Von dem Verzicht. Dennoch, denke ich. Spüre ich, mit Josef war es ähnlich. Ganz anders und doch ähnlich.
Mit Josef im Mikrokosmos. Mit der Pandemie im Makrokosmos. Ähnliche Muster. Dynamiken.
Mit Josef war es existenzieller.
Mit Josef passten wir uns täglich mehrmals an neue Situationen an.
Mit Josef konnte alles innerhalb weniger Stunden ganz anders sein.
Mit Josef konnten wir keinen Urlaub planen. Konnten nicht. Konnten. Nicht.
Passten uns an. Verzichteten. Gingen über unsere Bedürfnisse. Über Monate. Jahre. Keine Pause davon. Keine Perspektive auf Verbesserung. Nur. Auf Verschlechterung. Das war unsere Perspektive. Erschöpft waren wir. Voller Liebe. Voller Liebe für unser Kind. Getragen haben wir es. Uns.
Haben uns von den Menschen ohne dieses vorwurfsvolle Aber tragen lassen.
Und nun. Nun bin ich erschöpft. Pandemieerschöpft. Von den Menschen mit dem Aber. Menschen, die die Situation wegdeuten wollen. Kleinreden. Umgehen wollen. Mit dem Gedanken, mir wird nichts passieren. Mir doch nicht. Es sind die anderen.
Ich bin erschöpft davon. Hätte gehofft, alle. Alle zusammen. Und weiß doch, es ist viel zu viel verlangt. Und weiß nicht, wie es hätte anders gehen sollen. Heute und damals. Was würde es bedürfen, wenn wir doch nicht wissen, wie sich was wie entwickeln wird. Und doch. Und doch ist es das Leben. Woher wollen wir wissen, was…
Erschöpft. Uli reicht mir den Kaffee. Ganz heiß ist er. Ganz heiß. Einatmen und Ausatmen. Radio. Zahlen. Menschen. Kranke Menschen. Tote Menschen. Mein Herz. Schwer.
Hinschauen, denke ich. Hinschauen. So ist die Situation. Wir wissen, was wir machen können. Wissen es. Kann die Diskussionen nicht mehr hören. Das Relativieren. Im Angesicht des Todes. Einatmen und Ausatmen.
Nun. Nun bin ich wach. Ganz wach. Ganz im Hier. Josef, mein Josef. Halten würde ich dich gern. Gerade. Und bin dann doch erleichtert. Schäme mich dafür. Es wäre wohl viel schwieriger momentan. Mit uns. Anpassen. Aushalten. Wenn alle damit zu tun haben. Wenn alle die Energie brauchen.
Immer wieder zu prüfen. Innerlich zu prüfen: Was sind meine Bedürfnisse und wie kann ich sie der Situation anpassen. Die Realität. Die Realität wird sich nicht uns anpassen. Das wird sie nicht. Das habe ich schmerzhaft gelernt.
Damals hatten wir meist keine Zeit, innerlich auszuhandeln. Keinen Platz dafür. Heute schon. Heute. Schon. Meine Erschöpfung wird weicher. Ich werde wacher. Jette zieht sich an. Verstecken spielen wir noch, bevor sie mit Uli Brötchen holen geht. Einatmen und Ausatmen.