Weißt du noch? Vor 7 Jahren. Um diese Zeit war noch alles gut.
Die Tür klappert. Klara? Ich bin wach. Drehe mich um. Den Tag verschlafen. Wegschlafen, denke ich. Schmerzen. In meinem Herz. Ich setze mich. Füße auf dem Boden.
Jette schläft noch. Ganz eingekuschelt in ihrem Bett. In ihrem kleinen Bett. In dem Bett, in dem schon ihr Bruder schlief. In dem Josef schlief. Josef, mein Josef. Ich gehe ins Wohnzimmer. Klara umarmt mich. Ganz sanft. Tschüss Mama, sagt sie. Bis heute Nachmittag. Ja, sage ich. Ja. Hab einen schönen Tag. Die Tür schließt.
Ich winke ihr nicht nach. Nicht mehr nach. Sie ist schon so groß. Uli setzt Wasser auf. Für Tee. Kaffee. Ich setze mich an den Tisch. Zünde eine Kerze an. Geburtstagskerze. Für Josef. Tränen. Leise Tränen.
Mein Blick. Aus dem Fenster. Die Kinder strömen in die Schule. Werden eingesaugt. Die Bäume auf dem Schulhof sind kahl. Ich vermisse meinen Lieblingsbaum. Den großen rauschenden Baum. Er wurde im Herbst gefällt. Warum nur, denke ich. Er fehlt mir. Einatmen und Ausatmen.
Ich setze mich wieder. Bilder in meinem Kopf. Weißt du noch, möchte ich zu Uli sagen. Und weiß doch, dass das „weißt du noch“ soviel Schwere hat. Nichts Leichtes. Nichts Leichtes an Josefs Geburtstag.
Weißt du noch? Vor 7 Jahren. Um diese Zeit war noch alles gut. Da war es leicht. Noch leicht. Vom Krankenhaus kamen wir. Sollen noch warten und dann wiederkommen. Kuchen habe ich gegessen. In der Krankenhauscafeteria, weil ich doch so gern Kuchen esse.
Schmerz. Zieht durch meinen Körper. Einatmen und Ausatmen. Abstand halten. Zu dem „weißt du noch“. Distanz. Weil es so schwer wird. Kein gutes Ende hat. Zum Ende, da wird doch alles gut. Oder? Einatmen und Ausatmen.
Jette kommt. Läuft in meine Arme. Ich küsse sie. Zum Frühstück gibt es Schokoflakes. Einen Kakao dazu. Ich küsse sie. Immer wieder. Stopp, sagt sie. Ich weiß, sage ich. Ich weiß. Ihre Locken. Ach, denke ich. Ach.
Jette zieht sich an. Ganz allein. Eine Glitzerhose. Ein Glitzerkleid. Den Kuchen werden wir am Nachmittag essen. Heute ist doch Josefs Geburtstag. Geburtstag. Geburtstag. Mein Bruder, sagt Jette, ist gestorben. Ja, sage ich. Ja. Und weiß nicht, was es für sie bedeutet. Mein Bruder ist gestorben. Ich küsse sie.
Uli bringt Jette in die Kita. Ich sitze. Sitze am Tisch. Der Kaffee wird kalt. Stehe auf. Setze Wasser auf. Einatmen und Ausatmen. Festhalten. An dem Tag heute. Heute ist Heute. Und nicht vor sieben Jahren.
Uli ist wieder da. Wir frühstücken. Sind still. Dann fahren wir mit dem Auto. Zu einem See. Kennen den See. Waren oft hier. Oft als Josef noch bei uns war und auch danach. Sind gelaufen. Immer gelaufen. Im Laufen begreifen. Wir sind da. Nebel. Grau. Es riecht nach Erde. Wasser.
Wir laufen. Schweigen. Laufen. Laufen und laufen. Irgendwann machen wir eine Pause. Zünden eine Kerze an. Für Josef. Unseren Schmerz. Unsere Freude, dass er da war. Schmerzhafte Freude. Mehr Schmerz. Heute mehr Schmerz.
Wieder im Auto. Zurück. Jette abholen.
Zu Hause. Klara ist da. Geburtstagslied singen.
Jette pustet Josefs Kerze aus. Pustet sie aus, bevor sie richtig gebrannt hat. Wir lachen. Essen den Kuchen. Jette ißt die Früchte vom Kuchen. Wir lachen. Mit ihr. Leichter wird es. Leichter.
Wir packen Geschenke aus. Für Josef. Für uns. Basteln zusammen mit Jette einen Adventskalender. Leichter wird es. Fließender. Der Tag wird fließender.
Am Abend. Baden. Ganz heiß. Spüren. Mein Trauerritual. Dann ist es gut. Ich spüre genau, wann es gut ist. Abendbrot. Die Kinder schauen fern.
Ein Abendspaziergang. Nur Uli und ich. Ein Ritual. Ein Abendspaziergang. Nur für uns. Um 20.00 Uhr ist es. Da ist es. Das „weißt du noch?“. Da kamen wir an. In der Klinik. Ich hatte starke Wehen. Eine Kerze stand auf dem Tresen. Kreißsaal. Schummriges Licht. Uli bei mir.
Heute werden wir Josef im Arm halten. Dachten wir. Heute werden wir unseren Sohn im Arm halten. Ihn küssen. Nach Hause tragen. Dachten wir. Dachten. Wir. Josef, mein Josef. Einatmen und Ausatmen.
Jette kuschelt sich an mich. Ich spüre ihren Atem an meiner Brust. Spüre ihr kleines Herz klopfen. Küsse sie. Bin dankbar. Dankbar. Wofür? Dass wir leben. Dass Josef gelebt hat. Dankbar. Dann doch. Dankbarkeit. Josef, mein Josef.